Berliner Zeitung - 15. November 1999

 

Tanz mit der Bestie

von
René Martens

TV-Redakteur Francis Schiller schaut in dem Roman "Fernsehland" hinter die Kulissen seiner Branche

"Viele sind kaputtgegangen und wurden in Anstalten eingewiesen. " Francis Schiller

Wenn Max arbeitet, fühlt er sich, als sei er in einer Kaserne. Oder im Puff. Oder am Fließband. Max ist Redakteur bei einer Firma, die für einen privaten Fernseh-Sender die "Opfershow" produziert: Er lässt spektakuläre, möglichst blutige Unfälle nachstellen und besucht die Verletzten im Krankenhaus. Das ist ein stressiges Geschäft, zumal es "leider kaum noch richtige Unfälle gibt, bei all den Airbags, Rauchmeldern und Fahrradhelmen", wie ein Kollege bemerkt. So ist der Beginn einer neuen Produktion stets wie "der erste Tag eines neuen Krieges", der Umgangston ist ohnehin militärisch. "Reiß dich zusammen, Max", schnauzt ihn seine Vorgesetzte an, die gerade eine Zeitungsmeldung über eine "lebende Fackel" gelesen hat. "Hier steht, dass außer dem Gesicht alles verbrannt ist. Das ist wunderbar. Ihr zieht dem was Nettes drüber und schnappt euch einen pfiffigen Maskenbildner." Der Sender sei schließlich "heiß auf solche Schicksale".


Max ist der Held in Francis Schillers erstem Roman "Fernsehland", einer, der am Ende aus dem deprimierenden Trott ausbricht, indem er Amok läuft: Er entführt "Häuptling Silberlocke", den Moderator der "Opfershow", und inszeniert nach allen Regeln der Branche "ein zweites, viel besseres Gladbeck", um für einen Tag der "König vom Fernsehland" zu sein.
Der Schöpfer von Max arbeitet fürs wirkliche Fernsehen: Francis Schiller ist Redakteur beim Kölner Produktions-Riesen Endemol Entertainment ("Traumhochzeit", "Mini-Playback-Show") und dort zuständig für die RTL-Frühabend-Sendung "Notruf".
"Die ist aber bloß ein Muster für den Roman", sagt der 31-Jährige.

Ich hätte auch Lass dich überraschen oder Nur die Liebe zählt wählen können, die Psychogramme dieser Sendungen sind ähnlich.

Der frühere Werbetexter hat "Fernsehland" zwar stark überzeichnet, weil er eine "stumpfe Bestandsaufnahme" langweilig gefunden hätte. Dennoch sagt sein Roman viel aus über den Fernsehbetrieb. Ihm gelingt es, einen Eindruck zu verstärken, den bereits mancher Kritiker hatte: Dass bei den Sendungen, in denen Menschen-Schicksale ausgestellt werden, die Produktionsbedingungen so fragwürdig sind wie das Produkt selbst. "Ich sehe mich als Medium für viele Kollegen, die sich in endlosen Nächten an Hotelbars auskotzen", sagt der Autor. "Im Privatleben dagegen neigen sie zur Sprachlosigkeit. Es ist auf gewisse Weise faszinierend, dass das Fernsehen einen derartigen Einfluss auf seine Macher hat."

In einer der grotesken Passagen des Romans erzählt ein Redakteur der "Opfershow" von einem 48-jährigen TV-Veteran, der nach 20 Jahren Dauerstress in die Psychiatrie eingeliefert wurde, nachdem er sich zum Schluss mit einem Fahrradschloss an seinen Bürostuhl angekettet hatte. "Das beruht auf wahren Begebenheiten. Es gibt viele Kollegen, die kaputtgegangen sind und in Anstalten eingewiesen wurden", sagt Schiller. Zwölf bis 16 Stunden Arbeit inklusive.
Nachtdrehs, ständiger Kostendruck das sei der Alltag. "Die haben das Gefühl, die Sendung oder das ganze System rennen ihnen weg, und sie hängen am Rockzipfel. Wenn die Staffel nach sechs, sieben Monaten beendet ist, brauchen sie dieselbe Zeit, um sich zu regenerieren."

Traumberuf Fernseh-Schaffender für Schiller ein großer Hype. "Der wird nur für etwa zwei Prozent der Leute Wirklichkeit, vor allem für die Moderatoren. Für einen Redakteur dagegen bleiben die Moderatoren Mysterien, die sind für ihn genauso weit wie für den Zuschauer." Lobende Worte findet Schiller lediglich für Kai Pflaume: "Der geht mit den Leuten auch mal Mittagessen, die anderen dagegen sind in ihrer Rolle gefangen. Wenn der Kontakt zwischen denen, die produzieren, und denen, die präsentieren, größer wäre, könnte die Qualität vieler Sendungen erheblich steigen."

Francis Schiller macht sich viele Gedanken über die Zukunft der Branche, und wenn sein Buch einen pädagogischen Effekt hätte, wäre ihm das recht. "Ich hoffe, dass es Schüler lesen, die vorm Abitur stehen", sagt er. "Ich habe oft erlebt, dass Praktikanten, die frisch von der Schule kommen, ein paar Jahre leer gesaugt und dann ersetzt werden. Die haben danach keine Perspektive. Wer beim Fernsehen Karriere machen will, sollte eine journalistische Ausbildung mitbringen."

"Fernsehland" ist ein temporeicher Roman, der Stil, inspiriert von Irvine Welsh "Trainspotting", manchmal rotzig. "Triebhaft" habe er die Nächte durch geschrieben und sei danach zur Arbeit gefahren, sagt Schiller. Als Abrechnung mit dem Fernsehen möchte Francis Schiller sein Buch aber nicht verstanden wissen. "Dafür arbeite ich zu gern in dem Metier. Wenn ich zum Beispiel einen Beitrag mache über einen 68-jährigen Österreicher, der sich mit der Sense verletzt hat, dann muss ich in stundenlangen Gesprächen auch etwas von mir geben. So etwas bleibt spannend." Und das trotz der Produktionsbedingungen, die in "Fernsehland" beschrieben werden? "Ja. Es ist halt ein Tanz mit der Bestie."

Francis Schiller: "Fernsehland. Eine fast wahre Geschichte". Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 176 Seiten, 20 Mark