Rheinischer Merkur - 12. November 1999
FERNSEHEN
/ Moralist auf verlorenem Posten, Kidnapper aus verlorener Ehre Die
Giftbrühe blubbert Höher,
schneller, sensationeller – das Flimmern und Rauschen der Mattscheibe
raubt uns den Verstand. Ein Insider erzählt. von
Wolf Schön Den
gab es früher einmal. „Müßiger Leser“, redet Cervantes sein Gegenüber
an, das sich auf die absurden Abenteuer seines weitschweifenden Helden
einlassen will. Der heutige Leser verfügt über manches, nur Zeit hat er
nicht. Von wem er sich den Rest seiner freien Stunden stehlen lassen soll,
ist eine Frage, die Kafka mit einer Gegenfrage beantwortet hat: Wenn das
Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel
weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Das
Buch heißt „Fernsehland“, und auf seinem Umschlag weiden Kühe,
inmitten der unscharf künstlichen Farben. Wie die Farben, die das
Testbild liefert, geistern sie über eine Alm ohne Folklore und
Unschuldsvermutung. Ein Fernsehteam ist in Österreichs Höhenregionen
unterwegs, aber die Rindviecher, die es vor die laufenden Kameras zerrt,
haben auf zwei Beinen gestanden. Jetzt liegen sie im Spital auf der
Intensivstation. In Gletscherspalten sind sie gestürzt oder haben sich
mit rostigen Mistgabeln den Bauch aufgeschlitzt: lauter Tragödien mit
eingebautem Happy-End, weil die Notärzte wegen ihrer ochsenstarken
Konstitution nicht vergeblich um ihr Leben kämpfen. Don Quichotte im Golf Warum
müssen die Sensationsreporter so hoch hinaus? Nicht nur wegen der tollkühnen
Rettungsflieger in ihren knatternden Helikopter-Kisten und weil das Blut
im Schnee so frisch und feurig leuchtet wie im Märchen der Brüder Grimm.
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Auf
seiner Rosinante, die ein geleaster Golf ist, reitet er mit eingelegter
Empörungslanze gegen die bedrohlichen Windmühlen einer flimmernden Welt
an, die nur auf den Bildschirmen existiert. Und beim Schreiben seines
ersten Romans hört er auch die Mahnungen Kafkas: Eines von den Büchern
muß es sein, „die einen beißen und stechen“.
Seltsam
oder nicht: Der Leser fühlt sich bei der Quälerei wohl. Erleidet er doch
etwas, was jede lesenswerte
Erzählung außer Liebe und Tod bereitstellen muß, damit sich seine
Geduld nicht erschöpft – jede Menge bemerkenswerte Information. Doch alles für die Katz, wenn ein vielversprechender Fall vor Drehbeginn sein Ende in der Leichenhalle nimmt, so unprofessionell wegstirbt oder die Ersatzstory an den Skrupeln eines Krankenhausarztes zu scheitern droht. Damit verwandelt sich die Produktionsfirma in eine Galeere, auf deren Ruderbänken der Angstschweiß ausbricht, weil die Einpeitscher in der Chefetage die Schlagzahl erhöhen. Wer dem Quotendruck nicht standhält, geht über Bord. Schöne häßliche Fernsehwelt. Zugenagelt sind die Buden auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Das Buch erzählt von ohnmächtigen Mediensklaven, Leibeigenen einer Unterhaltungsindustrie, die ihr Publikum zu Tode amüsiert. |
Die
Täter hinter den Kulissen des gnadenlosen Entertainments sind selbst zu
Opfern geworden, die ihren Job mit Zynismus ertragen, bis sie gefeuert
werden. Vor dreißig Jahren hätte da die Stunde der Sozialrevolutionäre
geschlagen: Medienproletarier aller Länder, vereinigt Euch! Aus und
vorbei. Die Postmoderne, die sich in dem Roman niederschlägt wie Reif an
einer gefrosteten Scheibe, weigert sich, die ideologischen Schlachten von
gestern zu schlagen. Drehzahl der Groteske Don
Quichotte kämpfte auf verlorenem Posten, aber er verwandelte die Fiktion
in Wirklichkeit. So ähnlich gewinnt auch Francis Schiller alias Max seine
unerwartete, atemberaubende Vitalität. Offenbar ist die Generation X plus
gegen den Verlust der Illusionen immun. Mit Formel-1-Tempo jagt der
Literatur-Debütant durch die Kurven seines Parcours. Momentaufnahmen von
Charakteren und Schicksalen, von verzweifelter Lebenslust und lustvoller
Verzweiflung huschen vorüber. Daß das Gedächtnis die Schnappschüsse
speichert, liegt nicht nur an ihrer gestochenen Schärfe. Die Form ist der
Inhalt, geht es doch um die Hektik der Fast-Food-Gesellschaft, die auf der
Jagd nach dem Niegesehenen durch die Programme zappt. Sehr schnell hat der Motor der Erzählung die Drehzahl der Groteske erreicht. Im Ziel erwartet den Leser eine aberwitzige Explosion. Da schwingt sich am Ende einer kurzen Karriere, die zum Amoklauf wird, der Knecht der Medien zu ihrem Gebieter auf. Der ausgebeutete Zuträger wechselt die Rollen, inszeniert seine eigene Katastrophe. Gekidnappt hat er den graumelierten Starmoderator, der allwöchentlich die gierigen Raubtiere vor den Bildschirmen gedankenlos mit seinen blutigen Storys füttert. Showdown mit Blaulicht, Schüssen und Direktübertragung vom umstellten Tatort in die Abendschau: das entmenschte Medium live als Reality-TV. Aber es war schon im ersten Kapitel klar, als was sich der Autor versteht: als Moralist in einer Welt ohne Moral.
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